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"Ich bin der letzte Mohikaner" Karl Gotch-Interview aus dem Jahr 1984

Interview

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Published on:
15.05.2016, 08:30 
Author(s):
Das folgende Interview mit Karl Gotch habe ich einer "Catch Aktuell"-Ausgabe aus dem März 1984 entnommen. "Catch Aktuell" war das Organ eines damaligen Wrestling Fanclub mit Sitz in Frankfurt am Main. Ich bin der Meinung dass das Interview teilweise Aussagen enthält, die heute noch eine gewisse Relevanz haben und das Gesprächsprotokoll so interessant ist, dass es sich lohnt es für die heutige Generation von Wrestlingfans zu veröffentlichen. Vielen Dank an Andreas Matlé für die Freigabe des Artikel!

Editorial

"Ich bin der letzte Mohikaner", sagte Karl-Istaz Gotch und man weiß nicht, ob Wehmut oder Stolz aus der Stimme spricht. Vielleicht ein wenig von beidem. Seit neun Jahren bin ich mit dem Berufsringkampf verbunden und in diesem Zeitraum schon mit manchen Persönlichkeiten (darunter auch solche, die es sein oder noch werden wollen) zusammengetroffen. Doch meine Begegnung mit diesem Grandseigneur des Ringkampfes war mit Sicherheit eine der beeindruckendsten. Karl Istaz-Gotch, ein Mann, der sich seiner Verdienste um den internationalen Profiringkampf, um sein Können, bewusst ist, doch diese mit erstaunlicher Bescheidenheit, die ihn umso glaubwürdiger erscheinen lässt, trägt. Das Urteil anderer, die sich selbst untereinander nicht unbedingt "grün" sind, lassen ihn umso imposanter wirken. Ich erhielt nun die Gelegenheit, mich mit diesem Idol der aktiven Ringer und Catcher zu unterhalten. Seit fünf Jahren standen wir brieflich in Kontakt, doch dieses war unsere erste Begegnung. Und alles, was ich über diesen "Grand Man of Wrestling" gehört hatte, war nicht übertrieben.

Mit wohltuender Stimme, belgischen Akzent nicht zu überhören, sprach er über seine Laufbahn und seine Theorien in Bezug auf seinen so geliebten Ringkampf. Wie magisch zog er alle Zuhörer, die sich mehr und mehr um ihn scharten, in seinen Bann. Nicht zu übersehen und zu überhören war sein Stolz, sich wieder einmal in deutscher Sprache unterhalten zu können – ebenso mit seinen alten Freunden und Gegnern Nicola Selenkowitsch und Paul Berger, die beide noch immer vor ihrem ehemaligen Rivalen den Hut ziehen, wie jeder japanische Profi, der von diesem Gentilhomme ausgebildet wurde. Die Zeit ging natürlich viel zu schnell vorüber, denn gefragt war er überall und bei jedem. Noch immer ersuchen ihn die Veranstalter, wie man dieses und jenes machen könnte; die Ringer erbeten Auskunft nach Griffen und allen möglichen Hilfen für ihr individuelles Training. Sie alle wissen diesen weisen Mann zu schätzen.

"Ja", rekapituliert Karl, "die Japaner waren damals schon schlau genug, als sie mich verpflichteten." Was aus Inokis Gruppe geworden ist, braucht man nicht mehr groß aufzuführen. Den "Godfather of Wrestling" nennt man ihn hochachtungsvoll im Land der aufgehenden Sonne. Heute lecken sich auch verstärkt die Amerikaner die Finger nach der Hilfe dieses im Ring konzessionslosen Mattenmagiers, der noch heute seinen Mann zu stehen und so manchem zu zeigen wüsste, war er unter Ringkampf versteht.

Größten Respekt zollt er nach wie vor seiner Mama, die über 80 Jahre alt, noch in Belgien wohnt. "Wenn sie etwas sagt, wird es gemacht", gibt Mama immer den Ton an. Karl Istaz-Gotch - ein Kavalier der alten Schule, die heute oft schmerzlich vermisst wird. Auf jeden Fall ging so mancher nach den Ausführungen von Karl nachdenklich nach Hause.

Der letzte Mohikaner – gäbe es mehr davon, bräuchte man sich um den Berufsringkampf nicht zu sorgen. Jede Minute, die er sich nicht dem Ringkampf widmen kann, ist eine verlorene.


Das Gespräch

Karl-Istaz Gotch "Der echte Ringkampf muss, soll und wird wiederkommen."

Mit dem Weltklasse-Könner unterhielt sich Andreas Matlé:

Catch Aktuell: Karl, überall wo man hinkommt, sei es nun in die USA, Japan, Großbritannien oder in der Bundesrepublik, sich über den Ringkampf unterhält und den Namen Karl Gotch erwähnt, stößt dieser auf größte Hochachtung. Worauf ist dies zurückzuführen?

Karl Gotch: Ich habe immer trainiert und stets die Ehre vor dem Ringkampf aufrechterhalten. Das ist der einzige Grund, weshalb mir die Veranstalter und Ringer diesen Respekt entgegenbringen. Man muss sowohl dem Amateur- wie dem Berufsringkampf mit derselben Ehre entgegentreten. Viele denken, bei den Profis gehe es ausschließlich um das Geld. Nein, auch die Ehre des Sports spielt oder sollte zumindest eine Rolle spielen.


CA: Durch welche Umstände bist Du Berufsringer geworden?

KG: Ja, ich habe ja schon mit neun Jahren in Antwerpen mit dem Ringkampf begonnen und war bis meinem 24. Lebensjahr Amateurringer. Nach den Olympischen Spielen war ich gezwungen, Profi zu werden. Ich war verheiratet, hatte eine Tochter aber keine Arbeit. Schon im vierten Profikampf habe ich mit dem damaligen Weltmeister Frank Sexton über eine Stunde gerungen – unentschieden. Anschließend bin ich nach England gewechselt, hatte dann Glück in Deutschland, denn ich bin in Frankfurt engagiert worden. Das war sehr schön für mich, denn ich hatte dort genügend Zeit zum Trainieren, im Gegensatz zu England wo die Matchkämpfe viel Zeit in Anspruch nehmen. Wir haben damals viel trainiert in Frankfurt. Morgens sowieso, nachmittags im Schwimmbad im Freien und abends dann der eigentliche Kampf. Am nächsten Morgen hatte man die Chance, den Fehler vom Abend im Training wieder auszugleichen.


CA: Konntest Du zu Beginn deiner Laufbahn mehr Talent oder mehr Fleiß in die Waagschale werfen?

KG: Eine Mischung von beidem, man braucht beides. Vor sechs Wochen habe ich in Amerika mit den Amateuren trainiert. Und die haben mich gefragt, warum in Florida keine, aber in Iowa, Nebraska, Oklahoma, Pennsylvania, New Jersey und New York so viele gute Amateure hervorspringen. Sie meinten, es sei vielleicht das Klima, denn in Florida ist es sehr heiß, beinahe subtropisch. Nein, sagte ich, das einzige was fehlt, sind gute Lehrmeister, die die Talente fördern, ein guter Unterricht. Jeder Mensch ist ja geboren mit zwei Armen und zwei Beinen, einer Lunge und einem Herzen. Jeder hat die Begabung, nur ein guter Lehrmeister muss ihm beibringen, was ihm noch fehlt. Jetzt wirst Du fragen, was macht einen guten Lehrmeister aus? Jemand, der dir beibringt, was Gott dir geschenkt hat.


CA: Einige sehr gute Ringer, genannt sei exemplarisch nur Steve Wright, waren ja nie Amateurringer. Welchen Stellenwert hat für Dich Deine Amateurlaufbahn gespielt?

KG: Ja, auch früher waren die besten Profis in Amerika, viele darunter übrigens deutschstämmig, nie Amateure, das hat es einfach nicht gegeben. Die meisten von ihnen waren Landarbeiter. Nachmittags, während ihrer freien Zeit, haben sie den Ringkampf geübt, in der Scheune, wohin sie einfach eine Matte gelegt haben. Was man braucht, ist die Technik. Ein Farmer hat schon jeden Tag die gute Luft um sich, gut zu essen. Und im Winter haben sie dann Matchkämpfe auch um Geldbeträge ausgerichtet. Die Amerikaner haben das von Lancashire in England übernommen und haben es nachher in Catch-as-catch-can umgewandelt. Zuerst also der Einfluss von den Engländern, dann die Deutschen, Franzosen und so weiter. Amateure waren sie aber nie. Sie haben von Anfang an auch auf Aufgabe oder drei Sekunden Schulterniederlage gearbeitet. Du würdest erstaunt sein, wie viele Möglichkeiten der menschliche Körper zur Aufgabe bietet, vom Kopf bis zu den Beinen. Auch die sogenannten "Sleeper"-Griffe, zwei mit den Armen, drei mit den Beinen, mit denen man den Gegner tatsächlich kurzfristig zum Schlafen bringen kann.


CA: Hast Du in der Profi-Karriere deine Erfüllung gefunden?

KG: Ja. Ich war ein ganz armer Junge. Mein Vater war Seemann und meine Mutter hat in der Straße Fisch verkauft. Ich bin mit dem Bruder und dem Großvater aufgewachsen. Das einzige, was ich mir erlauben und leisten konnte, war der Ringkampf. Dazu hat man nicht viel gebraucht. Ich wäre auch gerne geschwommen und hätte gerne geturnt, aber das konnte ich mir auf lange Zeit gesehen nicht erlauben. Durch den Profiringkampf habe ich sehr viel von anderen Kulturen, Sitten und Sprachen gelernt, was ich sonst nie gekonnt hätte. Der Berufsringkampf hat mir die Möglichkeit gegeben, viel zu reisen, andere Menschen kennenzulernen. Man sagt ja, Reisen lehrt.


CA: Titel haben dabei wohl nie eine große Rolle gespielt.

KG: Niemals, nur die Ehre. Ich war Nationalmeister der Profis, ich war Europameister, bin dann nach Amerika gegangen. Dort war ich Mid-West und Ohio-Meister, nach acht Monaten USA-Meister und nach 13 Monaten AWA-Weltmeister, als ich Don Leo Jonathan in Columbus besiegte. Dann hatte ich einen schweren Bruch und später ist Verne Gagne mit dem Titel aufgetaucht, ich weiß aber nicht woher. Fünfmal habe ich mit Lou Thesz gerungen. Die anderen haben sich vor Thesz beinahe in die Hosen geschissen und ich bekam nie mehr eine Chance, um die Weltmeisterschaft zu ringen. Meisterschaften bringen kein Geld, nur die Zuschauer.


CA: Wann hast Du das Gefühl, dass es Zeit zum Abtreten ist, zum ersten Mal verspürt? Fiel Dir dieser Entschluss schwer?

KG: Nein, schwer gefallen nicht. Denn besser man tritt ab, wenn man noch ganz oben ist, statt als alter Mann. 1966 war ich erstmals in Japan, habe dort eine Vergiftung im Knie erlitten und wäre beinahe daran gestorben. Die Japaner waren froh, dass ich sie geschult habe. Ein Jahr später haben sie mich dann zurückgeholt und ich wurde der Lehrmeister für ihre Jungs. Drei Jahre bin ich dann dort geblieben, ehe ich nach Amerika zurückging. 1972 bin ich dann mit den neuen Organisatoren, New Japan Pro Wrestling, von Antonio Inoki zusammengegangen.


CA: War es für Dich eine Selbstverständlich, weiter zu trainieren und junge Ringer auszubilden und zu fördern?

KG: Trainieren muss man ja immer. Als Junger sowieso und als Alter ist man gerade dazu verpflichtet. Ich trainiere noch jeden Tag. Und so lange man mit jungen Leuten arbeitet, bleibt man selbst noch jung. Ältere Leute, die nur mit Gleichaltrigen zusammensitzen, klagen gegenseitig über ihre Wehwehchen. Wenn man mit Kerls von 16, 18, 20 und 25 arbeitet, hört man nie Klagen. Das ist doch viel besser. Für mich ist das alles wie Abenteuer. Wir gehen jetzt nach London, dann nach Südamerika und dann wieder nach Japan und dann nach Südkorea. Ich bin ja immer unterwegs.


CA: Vielleicht kannst Du einiger Ringer nennen, die Du hervorgebracht hast?"

KG: Der Jüngste ist Tiger Mask, dann Akira Maeda, Tatsumi Fujinami, Antonio Inoki zuerst, er war 17 Jahre jung, als er zu mir kam. Und in Amerika, so viele, ich kann mich überhaupt nicht mehr an alle erinnern. Die meisten Jungs schreiben mir immer noch von der ganzen Welt. Sie fragen nach der Kondition, schildern mir ihre Schwächen und fragen, wie man diese ausgleichen könnte. Ich gebe ihnen dann Tipps für die einzelnen Griffe und die Technik, für die Hebelwirkung. Kraft und Kondition machen nur 30 Prozent aus. Der Rest ist Köpfchen.


CA: Was hat für Dich das Reizvolle am Ringkampf ausgemacht?

KG: Jeder hat eine Liebe. Aber für mich ist die schönste von allen Sportarten das Freistilringen. Griechisch-Römisch ist ja schon eine schöne Sache, aber eben nur 50 Prozent. Den Ringkampf muss man wie ein Schachspiel sehen. Die Matte ist das Brett, König, Springer, Dame und Bauer usw. sind die einzelnen Körperteile. Die muss man ausnutzen können. Hauptsache im Ringkampf ist, was man zwischen den Ohren hat. Man muss immer auf Kombinationen hinarbeiten, nicht auf den einzelnen Griff, denn gegen den kann man Abwehrmöglichkeiten erarbeiten.


CA: Glaubst Du, dass der Ringkampf, wie Du ihn ausgeübt hast und wie er Dir vorschwebt, noch Chancen in der Zukunft hat?

KG: Die Geschichte des Ringkampfes bewegt sich, wie von einem Zirkel bewegt. Was wir jetzt gerade mitmachen, war alles schon einmal da. Was neu ist, ist alt und was alt ist, ist neu. Die Griechen haben das schon vor 2.000 Jahren groß aufgebaut – Technik, Sport, Körperpflege. Die Römer haben es übernommen, alles hat sich aber auf die schweren Kerls und die Brutalität konzentriert, Kraft und Wildheit, keine Technik mehr. Das ist das, was wir heute wieder sehen. Heute regieren die schweren Brocken, die haben in den USA meist keine Technik, die können nur keilen, treten. Ich muss leider sagen, in Amerika sind die schlimmsten davon. Die haben keine Qualität, nur Quantität. Nur ein Fleischhaufen, aber da steckt nicht viel drin. Viele Leute kennen ja überhaupt nicht den richtigen Ringkampf. Dasselbe in der Musik: Immer wird es Klassische Musik, immer wird es Sinfonische Orchester geben. Die heutigen modernen Sachen kommen und gehen, das Lied des letzten Monats ist heute schon vergessen. Und so ist es auch bei uns: Der richtige Ringkampf bleibt immer bestehen. Glaube mir: Wer das bestreitet, hat keine Ahnung vom Ringen. Ringen ist eine Kunst. Und wenn die richtigen Leute eingesetzt werden, wird es immer guten Ringkampf geben. Der echte Ringkampf wird wieder kommen, muss wieder kommen, er soll wieder kommen. Viele verteidigen auch das jetzige, weil sie damit ihr Brot verdienen. Aber das Brot muss man sich auf anständige Weise verdienen. Ringkampf wird es immer geben. Gott sei Dank. Ich bete dafür.

CA: Karl, wir danken Dir für dieses Gespräch.